21. Oktober 2025

Konflikte verstehen, während sich die Welt verändert

Warum Mediator*innen im Zeitalter der Polykrise neue Räume des Dialogs schaffen müssen

Wenn Konflikte Ausdruck gesellschaftlicher Umbrüche werden, braucht Mediation neue Formen: Räume für Streit, Verständigung und gemeinsames Lernen – auch im anschwellenden Kollaps.

Teil 1 der Serie:

Mediation als Zukunftskompetenz

Bernd Fechler
Mediator und Ausbilder für Mediation BM / Systemischer Organisationsentwickler

Wir leben in einer Zeit, in der Konflikte nicht mehr einfach gelöst werden können.

Sie müssen verstanden werden – als Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Spannungen, die in jedem Gespräch, jeder Organisation, jedem politischen Streit mitschwingen.

Und wir erleben: Diese Spannungen werden dichter. Klimakrise, Demokratiekrise, Sicherheitskrise, soziale Spaltung, Sinnkrise – vieles greift ineinander.

Der Begriff Polykrise beschreibt das Gefühl, dass alles gleichzeitig brennt.

Viele Menschen erleben das als Ohnmacht. Als Überforderung, als Dauererregung und reagieren mit Rückzug ins Private oder in einfache Wahrheiten.

Doch hinter dieser Reaktionsvielfalt steckt eine gemeinsame Erfahrung: Wir wissen nicht mehr recht, wie wir miteinander und über diese Dinge sprechen sollen.


Konflikte im Zeichen der Transformation

Als Mediator*innen arbeiten wir mit Konflikten – aber häufig in einem Rahmen, der von Stabilität ausgeht: Es gibt eine Organisation, ein System, eine Beziehung, die „repariert“ werden soll.

Doch was, wenn sich herausstellt, dass die Dinge nicht mehr so einfach zu lösen und zu reparieren sind? Wenn die Systeme selbst in Bewegung geraten?

Wenn ganze Geschäftsmodelle, Lebensstile und gesellschaftliche Gewissheiten ins Wanken geraten – und niemand das so richtig wahrnehmen und anerkennen möchte?

Der Soziologe Stefan Lessenich spricht von den „Strategien der Entlastung von der Wirklichkeit“ – also der Tendenz, sich aus der Verantwortung zu ziehen, während man in gewohnten Mustern weiterlebt. Diese Entlastung funktioniert – bis sie nicht mehr funktioniert.

Dabei ist die Einsicht, dass etwas grundsätzlich schiefläuft, ziemlich weit verbreitet. Nur wird darüber kaum gesprochen. Der britischen Forscher und Transformationsberater Rob Harrison-Plastow hat das in diesem Frühjahr auf LinkedIn sehr gut beschrieben: Viele wohlhabende, gut informierte Briten erkennen die Fragilität der Systeme und erwarten einen Kollaps – bleiben aber öffentlich völlig still. Sie sind weder extreme Aktivisten noch Leugner, sondern eine „stille Mehrheit“.

Harrison-Plastow sagt, das zentrale Problem sei nicht mangelndes Wissen, sondern eine emotionale Lähmung, die er das Survival Paradox nennt: Menschen sind gefangen zwischen ihren existenziellen Zukunftsängsten und der unmittelbaren sozialen Angst vor Ausgrenzung und Statusverlust (niemand möchte als „hysterisch“ oder „uncool“ gelten).

Um offener und produktiver mit den gefühlten Krisen umgehen zu können, fehle es den meisten an sozialer und emotionaler Sicherheit: Menschen müssen wissen, dass sie nicht allein sind, und sichere Räume finden, um ihre Wahrheiten auszusprechen.

Damit stoßen wir an die Herzkammer unserer Profession.

Es geht um Transformationskonflikte: um das Ringen darum, wie wir Zukunft gestalten.

Für diese Konflikte braucht es sichere Räume und ein Bewusstsein für ihren Wert und ihre Wichtigkeit.

Wenn solche Konflikte öffentlich werden, wenn Bürger*innen über Windräder streiten, Mitarbeitende über Sinn, Nachbarn über Migration, Führungskader über Disruption und alle plötzlich wie verrückt KI benutzen (und sich gleichzeitig heimlich fragen, wann wohl ihr Job durch einen KI-Bot geschreddert wird) – dann sollten wir uns keine Illusionen machen: die Suche nach schnellen Lösungen wird sehr oft ins Leere laufen.

Vielleicht geht es zunächst erst einmal darum, zu verstehen, was uns da alle so erschöpft.

„We are in an imagination battle. And we have to imagine beyond the current structures.“

Adrienne Maree Brown meint damit, dass wir uns in einem Kampf der Imagination befinden – einem Kampf um die Vorstellung von unserer Zukunft. Die Frage ist also nicht nur, ob wir uns transformieren – sondern auch wessen Vorstellungskraft die kommende Welt prägen wird. Wird es die Vorstellungskraft derjenigen sein, die an der alten Ordnung festhalten – weil sie „alternativlos“ ist? Oder die derjenigen, die neue Formen des Zusammenlebens erproben?

Dieser Übergang – zwischen alten Strukturen, die zusammenbrechen, und neuen, die noch nicht geboren sind – ist das Terrain, auf dem Mediation zur Zukunftskompetenz wird.

Transformative Mediation – verstanden als Arbeit an Beziehung, Wahrnehmung und Verantwortung – wäre zunächst einmal der Ort, an dem die Paradoxien sichtbar und besprechbar werden können.


Das Ringen um Worte in der Polykrise

Für einige Jahre wurde mit dem Reden über die „Klimakrise“ die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels verbunden. Wissenschaft und Aktivismus sprachen voller Hoffnung von der bevorstehenden sozial-ökologischen Transformation. Seit einiger Zeit ist das K-Wort aus den Schlagzeilen verschwunden, andere Krisen sind an ihre Stelle gerückt. Manche scheinen uns sogar fast lieber zu sein, weil sie – trotz allem Schrecklichen – uns vertrauter sind und eingespielte Denk- und Problemlösungsmuster bedienen.

Der drohende Zusammenbruch der ökologischen Erdsysteme spielt jedoch in einer anderen Komplexitätsliga. Der Journalist Bernd Ulrich attestiert den meisten Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik eine Blindheit gegenüber dem Neuen: „Die großen, neuen Probleme des 21. Jahrhunderts, insbesondere die Ökologie, werden weiterhin mittels der Grammatik des 20. gelesen und somit eben nicht verstanden.“ Das Streben nach „Maß und Mitte“ und das Festhalten an der (fossilen) Ordnung löst die Probleme der eskalierenden Klimakrise nicht, sondern verstärkt sie – während vertrautere Krisen das autosuggestive Selbstwirksamkeitserleben der Verantwortlichen bedienen.

In der Summe führt diese Gemengelage aus ökologischer Krise und „Ablenkungskrisen“ zu jener Daueranspannung einer „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (Lessenich), die sich als Vertrauensverlust in Institutionen, Polarisierung, Zynismus in der politischen Kultur, Angst vor Kontrollverlust, Bedeutungsverlust, Identitätsverlust widerspiegelt.

Diese Dynamiken sind nicht nur ökologisch oder psychologisch.

Sie sind zutiefst relational.

Es geht um unser Verhältnis zueinander und um unser Weltverhältnis. Um die Frage: Wie bleiben wir verbunden, während die Welt aus den Fugen zu geraten scheint?


Die Rolle der Mediation in der Polykrise

Hier beginnt das Feld, in dem Mediation eine neue gesellschaftliche Relevanz gewinnt.

Wir brauchen nicht nur mehr Mediation, sondern andere Mediation – eine, die mit Komplexität und getriggerten Emotionen umgehen kann, die Konflikte noch mehr als bisher als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse versteht – auch dort, wo sie privat oder im scheinbar politikfreien Raum aseptischer Business Lounges spielen.

In einer solchen Mediation ginge es darum

  • Konflikte nicht nur zu befrieden, sondern erst einmal zuzulassen und zu verstehen.
  • Unangenehme Emotionen nicht zu vermeiden, sondern bewusst zu integrieren.
  • Unterschiedliche Wirklichkeiten auszuhalten, statt sie zu harmonisieren.

Das erfordert von Mediator*innen nicht nur Techniken, sondern Haltung: Selbstreflexion, Emotionskompetenz, systemisches Denken, politische Orientierung, Diskurssensibilität – und noch mehr Mut zur Lösungslosigkeit: zur Fähigkeit, den Raum zu halten, während Gewissheiten sich auflösen.

Ich bin zutiefst überzeugt: in der Mediation müssen und können wir Räume zum Streit, zur Verständigung, zum emotionalen Durcharbeiten geben – zum Empowerment. Auch im anschwellenden Kollaps.


Lernen, mit der Komplexität zu leben

In unserer Ausbildung „Mediation und mediatives Handeln in Transformationsprozessen“ arbeiten wir genau an dieser Schwelle: zwischen der äußeren Welt des Wandels und der inneren Welt der Emotionen.

Wir fragen:

  • Wie gehen wir mit Angst, Schuld und Abwehr in Konflikten um?
  • Wie begleiten wir Gruppen, Organisationen und Teams, die sich an den Zumutungen der Veränderung zerreiben?
  • Wie entwickeln wir selbst Resilienz und Dialogfähigkeit, statt in die Verdrängung zu rutschen?

Wir üben, Komplexität zu bewohnen, statt sie aufzulösen.

Denn genau dort – im Aushalten des Nicht-Wissens – entsteht neue Handlungsfähigkeit.


Räume für Unsicherheit und Nicht-Lösungen

Vanessa de Oliveira Andreotti, brasilianische Pädagogin und Menschenrechtsaktivistin, ermutigt uns, „to sit with the problem“.

Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe unserer Profession in der Polykrise:

Nicht Lösungen zu versprechen, sondern Räume zu öffnen, in denen Menschen wieder in Beziehung treten – zu sich selbst, zu anderen, zu dem, was sie bedroht.

So verstanden ist Mediation nicht nur Krisen-Tool, sondern vor allem eine Kulturtechnik des Übergangs.

Und wer sie erlernt, lernt nicht nur, Konflikte zu begleiten, sondern auch, inmitten der Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben.

Welche Realitäten sind wir bereit, anzuerkennen? Sind wir reif für Imaginationen, die der Situation angemessen sind? Die Wahl liegt nicht nur bei „der Gesellschaft“. Sie beginnt bei uns – in jedem Gespräch, das wir führen.

In der nächsten Folge beschreibe ich Transformationskonflikte etwas genauer und weise auf den Wert Innere Arbeit in der Polykrise


📅 Ausbildung „Mediation und mediatives Handeln in Transformationsprozessen“

Start: 8. Dezember 2025 | Ort: Mannheim (Altes Volksbad)

Dauer: 1 Jahr – eine gemeinsame Lern- und Entwicklungsreise

📄 Infos & Anmeldung: www.inmedio.de // Ausbildungsbroschüre

#Mediation #Transformation #Polykrise #GesellschaftlicherWandel #Konfliktkompetenz #Resilienz #inmedio #Dialog #Demokratie #Kollapsdiskurs

Zurück zur Übersicht

Teile es!